Gastfamilienprojekt für Ukraine-Flüchtlinge: eine SAH-Mitarbeiterin berichtet

Murielle Eigner leitet seit Mitte März das Gastfamilienprojekt für das SAH Zürich. In Zürich treffen besonders viele Flüchtlinge ein, darum ist die Stadt speziell gefordert. Das SAH Zürich hat die Vermittlung von Flüchtlingen an Privathaushalte vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) ab April 2022 übernommen. Das Projekt befindet sich noch immer im Aufbau.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag von Ihnen aus?
Mein Arbeitstag startet um 9.00 Uhr im Bundesasylzentrum. Neben dem Vermittlungsalltag bin ich mit dem Aufbau des Projekts beschäftigt, darum bewältige ich zuerst die alltägliche Mailflut. Um 10.00 Uhr treffen die Betreuer*innen und Dolmetschenden ein. Nach einem kurzen Briefing sind wir startbereit. Morgens ist oft Geduld gefragt, da das Staatssekretariat für Migration oft noch keine Dossiers für uns hat. Diese bekommen wir von der Triagestelle des Unterbringungsdesks, denn nicht alle Flüchtlinge können bei Privatpersonen untergebracht werden. 
Um ca. 18.00 Uhr hören wir auf. Wann immer möglich setzen wir uns alle für ein kurzes Debriefing zusammen. Falls nicht, frage ich die Mitarbeitenden einzeln, wie es ihnen geht und wie ihr Tag war. Diese abendliche Befindlichkeitsrunde ist mir sehr wichtig, denn die Arbeit kann emotional sehr belastend sein.

Was sind das für Personen, die ihr an Privathaushalte vermittelt?
Es sind oft Mütter mit ihren Kindern. Wir vermitteln keine unbegleiteten Minderjährigen in private Unterkünfte, da die Gastfamilien zu wenig geprüft werden können. Auch keine sehr kranken, gebrechlichen oder pflegebedürftigen Personen, damit den Gastfamilien nicht zu viel Verantwortung zugemutet wird. 

Wie wissen Sie, welche Familien zusammenpassen?
Sobald wir ein Dossier erhalten, beginnen die Betreuer*innen mit dem „Matchen“: Die Geflüchteten werden zuerst nach ihren Bedürfnissen bezüglich Wohnen gefragt, zum Beispiel ob sie Haustierallergien haben oder körperliche Einschränkungen, wodurch etwa Treppensteigen schwierig ist. Auch fragen wir sie nach ihren Wünschen, Berufen und Hobbies, um noch einige persönliche Infos zu haben. 

Wie geht es nach diesen Gesprächen weiter?
In der Datenbank von Campax suchen wir dann nach einer geeigneten privaten Unterkunft bei einer Familie oder Einzelperson. Schweizweit stehen aktuell rund 65'000 Betten in privaten Unterkünften zur Verfügung, doch wir vermitteln nur im Kanton Zürich. In der Datenbank gibt es nur wenige Informationen über die Unterkünfte. Also rufen wir die potenzielle Gastfamilie an und fragen zunächst, ob das Angebot noch aktuell und per sofort verfügbar ist. Zum Glück ist das meistens der Fall. Wir erzählen, was wir über die geflüchteten Personen wissen und klären ab, ob die Räumlichkeiten ausreichend sind. Natürlich fragen wir ebenfalls nach einigen persönlichen Dingen, um auch den Geflüchteten etwas «Menschliches» erzählen zu können. Wenn alles passt, wird Zeit und Ort für das Zusammentreffen vereinbart.
Im Anschluss erzählen wir den Geflüchteten von der Gastfamilie und ob sie sich vorstellen können, für die nächsten drei Monate dort zu wohnen. Falls ja, erklären wir ihnen, wann sie umziehen können, wo sie die Gastfamilie treffen und geben ihnen allgemeines Informationsmaterial über das Ankommen in der Schweiz mit. 
 
Was sind die grössten Herausforderungen?
Da wir in die Prozesse vom Bundesasylzentrum und dem Staatssekretariat für Migration eingebunden sind, können wir unseren Alltag nur bedingt selbst steuern. Eine grosse Herausforderung ist es, flexibel zu reagieren, was auch immer der Tag mit sich bringt. Auch die emotionale Belastung ist teilweise hoch. Manche der Geflüchteten waren noch wenige Tage zuvor in Gebieten mit schweren Gefechten. Die Erlebnisse, die sie mit uns teilen, gehen mir sehr nahe.

Welche Situation hat Sie am meisten berührt?

Puh, da kommen mir unzählige Situationen in den Sinn... Allgemein berührt mich die Solidarität der Schweizer Bevölkerung sehr. Es ist wunderschön, wie Gastfamilien ihr Zuhause für die ukrainischen Geflüchteten öffnen und sie willkommen heissen. Umgekehrt ist es die Reaktion der Geflüchteten, wenn wir ihnen von ihrem neuen Zuhause für die nächste Zeit erzählen, die mir immer wieder Gänsehaut beschert. Das Vertrauen, das uns von beiden Seiten entgegengebracht wird, ist unglaublich. Uns erreichen ab und zu Nachrichten und Fotos aus den Gastfamilien, bei denen mir das Herz aufgeht. Insgesamt konnten wir schon für über 500 Geflüchtete einen Platz in einer privaten Unterkunft finden, das macht uns stolz. Aufgrund der positiven Erfahrungen, die jetzt gemacht werden, hoffe ich sehr, dass die Solidarität noch lange anhält und das Projekt künftig für Geflüchtete aus aller Welt geöffnet wird.