Wie bist du zur Case Managerin im Bereich Migration bei SOS Ticino gekommen?
Ich habe mich schon immer für das Thema Migration interessiert und war generell von Menschen und ihrer Herkunft fasziniert. In der ersten Phase meines Studiums habe ich Sozialarbeit und Sozialpolitik in Freiburg studiert. Danach habe ich den Master in Migration und Staatsbürgerschaft an der Universität Neuchâtel absolviert. Was mich dazu bewegt, diese Arbeit im Migrationsbereich zu machen, ist der Wunsch, Menschen zu unterstützen, die sich in einer verletzlichen Situation befinden.
Was sind die Aktivitäten von SOS Ticino im Zusammenhang mit der Migration?
SOS Ticino befasst sich mit der Unterstützung der Migrationsbevölkerung und insbesondere von Asylsuchenden, Personen mit einer F-Bewilligung (vorläufige Aufnahme), Personen mit Flüchtlingsstatus und Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus. SOS Ticino nimmt diese Menschen auf und begleitet sie mit einem breit gefächerten Dienstleistungsangebot mit dem Ziel, ihre Integration in das soziale Gefüge zu fördern. Als “Case Manager” bin ich für die soziale und administrative Begleitung der Personen zuständig. Wenn eine Person in die Schweiz kommt und ein Asylgesuch stellt, wird sie zunächst in einem Bundeszentrum für Asylsuchende untergebracht. Danach wird sie einem Kanton zugewiesen, in diesem Fall dem Kanton Tessin. Dort wird sie in das Kollektivzentrum des Roten Kreuzes verlegt, wo die erste Phase des Integrationsprozesses beginnt. Nach einigen Monaten wird die Person in eine individuelle Wohnung auf dem Kantonsgebiet verlegt. Hier beginnt unsere Begleitung.
Welche Hilfe kannst du Migrant*innen in deiner Arbeit bieten und wo liegen die Grenzen?
Unsere Arbeit besteht darin, Menschen zu begleiten, die in die Schweiz kommen und sich in einem bürokratischen System, das wirklich komplex ist, orientierungslos fühlen. Wir hören den Menschen aktiv zu, versuchen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und leiten sie an die richtige Stelle weiter.
Es gibt jedoch objektive Grenzen des Gesetzes und der Verfahren, und dies führt zu viel Frustration, nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei den Mitarbeitenden, die einen Wunsch nicht erfüllen können. Der häufigste Wunsch, dem oft nicht entsprochen werden kann, betrifft Personen mit der Ausweis F (vorläufige Aufnahme), die ihre Familien besuchen möchten. Personen mit diesem Status dürfen die Schweiz nicht verlassen. Unbegleiteten Minderjährige, die im Alter von 12-13 Jahren ihr Land verlassen, kommen mit 15 Jahren hier an und können aufgrund ihres Status nicht auf ein Wiedersehen mit ihrer Familie hoffen, die in ihrem Herkunftsland geblieben ist oder sich in einem anderen europäischen Land aufhält. Das erzeugt bei den Jugendlichen Schuldgefühle gegenüber ihrer Familie sowie Frustration und Entmutigung, die wirklich sehr stark sind. Leider können wir nur bis zu einem gewissen Grad helfen.
Was sind deine Bedenken in Bezug auf afghanische Flüchtlinge in der Schweiz?
Die politische Situation in Afghanistan in den letzten zwei Jahren, d.h. seit der Machtübernahme der Taliban, hat s der afghanischen Bevölkerung zweifellos grosses Leid und grosse Sorgen bereitet. Der Gedanke an die Familie, die Freund*innen, die Verwandten, die im Land geblieben∙sind, in einer Situation des Chaos, der allgemeinen Gewalt, hat dazu beigetragen, die Stresssituation zu erhöhen. Ich stelle fest, dass es viele Menschen gibt, die trotz des schwierigen Umfelds die Ressourcen haben, um sich in der Schweiz ein Leben aufzubauen, mit einer Ausbildung, einer Arbeit, einer Zukunftsvision. Andere sind durch die Flucht sehr geschwächt. Diese Menschen werden durch die Entwicklungen in Afghanistan weiter geschwächt und das macht mir Sorgen.
Welche Hindernisse siehst du in der Schweiz?
Eine Situation, die viel psychisches Leid verursacht, ist die Schwierigkeit der Familienzusammenführung. Es gibt bestimmte Gesetze, bestimmte Verfahren und oft ist es für die Person nicht möglich, ihre Familie hierher zu bringen. Alles hängt von der Genehmigung ab. Wenn dein Asylantrag bewilligt wird, hast du das Recht auf Familienzusammenführung, aber wenn du einen anderen Status hast, ist das nicht möglich. Für Menschen mit einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis ist es viel komplizierter und oft nicht möglich.
Gibt es einen besonders starken Moment, den du im Bereich Migration bei SOS-Ticino erlebt hast?
Ich erinnere mich an einen jungen Afghanen, der sehr jung in die Schweiz kam und Asyl beantragte. Er begann seinen Integrationsprozess, besuchte verschiedene Sprachkurse und begann zu arbeiten. Plötzlich erhielt er vom Staatssekretariat für Migration (SEM) den definitiven Entscheid, dass sein Asylgesuch abgelehnt sei und er die Schweiz verlassen müsse. Er rekurrierte vor Gericht, doch das Gericht bestätigte den Entscheid. Er musste plötzlich seine Arbeit aufgeben und beantragte Nothilfe. In der Folge lebte er mehrere Jahre in völliger Unsicherheit und Angst vor der Rückschaffung.
Mit den jüngsten politischen Veränderungen in Afghanistan stellten die Jurist*innen des Rechtsdienstes von SOS Ticino beim SEM ein Gesuch um Überprüfung der Situation, da der politische Kontext nicht mehr derselbe war. Schliesslich gewährte das SEM dem jungen Mann eine vorläufige Aufnahme, so dass er sein Leben nach mehreren Jahren der Ungewissheit sein Leben wieder in die Hand nehmen konnte! Er konnte wieder arbeiten und alles, was er hatte aufgeben müssen, wieder aufnehmen. Heute ist er finanziell unabhängig und lebt in einer stabilen Situation in der Schweiz.